"Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst", sagt der Sozialpsychologe Harald Welzer in seinem Essay "Verweilen beim Grauen" über den wissenschaftlichen Umgang mit dem Holocaust. Dieser Satz trifft in besonderer Weise auf die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie unter psychisch Kranken und geistig Behinderten zu und mahnt deshalb die Psychiatrie, auch 70 Jahre danach an die Ermordung hunderttausender Psychiatriepatientinnen und -patienten in den Jahren 1939 bis 1945 zu erinnern.
Die Reaktion der Öffentlichkeit nach 1945 war bis in die 1980er Jahre geprägt von einem "gemeinsamen Schweigen" aller. Die Opfer konnten sich nicht mehr Gehör verschaffen, ihre Angehörigen wagten es nicht, die Medizin verstummte in der Scham des Verbrechens und der eigenen Mittäterschaft und in der Öffentlichkeit wurde dieser Massenmord zwar generell abgelehnt, aber gleichzeitig argumentiert, dass es in vielen Einzelfällen Mitleidstötungen gegeben habe.


Für mich als Psychiaterin bedeutet die Beschäftigung mit dieser Episode in der Geschichte der Medizin und meines Faches im Besonderen immer wieder neu Erschrecken, Entsetzen und Scham. Sie zeigt, wie weit sich die Psychiatrie und andere medizinische Disziplinen diesem menschenverachtenden Regime unterworfen haben, ja es mitgetragen haben. Obwohl die Medizin ausdrücklich die Aufgabe inne hat, sich sorgend und schützend für den kranken und schwachen Menschen einzusetzen, hat sie diesen Auftrag pervertiert und den ideologischen Wahnsinn der Selektion und Ausmerzung mitgetragen.
Gerade als Psychiater wissen wir, dass psychische Krankheit keinen Defekt oder Makel darstellt, sondern mit viel Leiden für die Betroffenen und ihre Familien einhergeht. Gleichzeitig, auch das lernen wir in der Begegnung mit unseren Patienten, ist das Anderssein in der psychischen Erkrankung auch eine Chance für die Gesellschaft, bedeutet es doch auch Besonderheit und Quelle von Einzigartigkeit und kann unseren Blick richten auf krankmachende gesellschaftliche Bedingungen.
Die Beteiligung der Medizin an der Euthanasie des NS-Regimes offenbart, in welchem Ausmaß und in welcher Geschwindigkeit dem kranken und hilfsbedürftigen Menschen die Fürsorge entzogen wurde und an die Stelle Sozialdarwinismus und menschenverachtende Eugenik trat.
In unserer Gesellschaft, die sich so einseitig an den Idealen von Intellekt, Produktivität und Selbstbestimmung orientiert, ist weiterhin die Gefahr gegeben, den Wert menschlichen Lebens an geistiger Funktions- und Leistungsfähigkeit zu messen. Wenn heute in unseren direkten europäischen Nachbarländern aktive Euthanasie bei Demenzkranken und damit nicht-einwilligungsfähigen Menschen erwogen wird, dann stehen wir erneut vor der Frage, wer über den Lebenswert oder -unwert des einzelnen Menschen bzw. Patienten, der sich nicht mehr äußern kann, entscheiden darf?

Hier lehrt uns nicht zuletzt die Geschichte die Abgründe solcher Fragen. Hier muss die Medizin angesichts der Schrecken ihrer Geschichte wissen und sich Gehör verschaffen, dass jeder Mensch in sich einen von äußeren Faktoren unabhängigen inneren Wert trägt - die Personenwürde - die nicht an Verdiensten und Leistungen gemessen werden kann.
Hier schließe ich mich meinem Fachkollegen Hans Lauter an, der hier in Rostock vor einigen Monaten von der Menschenwürde als intersubjektives Phänomen sprach, als "Anerkennungshandlung, die wir dem Mitmenschen entgegenbringen, die wir allerdings dem Bedürftigen auch vorenthalten können" - wie dieser Tag deutlich macht. Gerade dann, wenn wir infolge einer schicksalhaften Erkrankung oder Behinderung an der ungestörten Entfaltung unserer Lebensziele gehindert sind, werden unsere Schutzbedürftigkeit und unser Angewiesensein auf die Anderen besonders deutlich erfahrbar.

Mit der Entscheidung für ein Mahnmal wollen wir als Rostocker Zentrum für Nervenheilkunde und vor allem als Rostocker Psychiatrie ein Zeichen setzen, dass wir um die Gefährdungen der Medizin und unseres Faches wissen.
Wir haben im letzten Jahr schrittweise die Geschichte unserer Klinik in der NS-Zeit untersucht und mussten feststellen, dass auch eine ganze und mit den Nachforschungen steigende Zahl von Rostocker Patienten unter den Opfern zu beklagen sind. Etikettiert mit einer sechsstelligen Nummer, wurde ihr Leben als "lebensunwert" kategorisiert.
Den inzwischen identifizierten und damit namentlich bekannten, aber auch den ungenannten und den noch unbekannten Opfern gilt dieses Mahnmal zur bleibenden Erinnerung und Achtung ihrer Würde und den Angehörigen als Zeichen der Anteilnahme und des Mitleides.

Mit der Auswahl dieses Mahnmals des Berliner Künstlers Christian Cordes wollen wir vor allem informieren, Patienten, ihre Angehörigen, alle in der Psychiatrie Tätigen, aber auch die allgemeine Öffentlichkeit, die täglich an dieser Klinik vorbeikommt. Wir wollen - wie Sie gleich sehen werden - der Aufforderung des Mahnmals "Erinner" heute und immer wieder folgen und damit das Schicksal dieser Patienten dem Vergessen entreißen.
Der provokativen Aufforderung des Mahnmals zum "Vergiss" stellen wir ein klares Nein entgegen und widersprechen damit auch einer öffentlich nicht selten geäußerten Haltung, dass die schrecklichsten Kapitel unserer Geschichte 70 Jahre danach auch einmal vergessen sein müssten.

Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass wir mit diesem Mahnmal unseren Patienten etwas zumuten, erinnern wir sie doch in schweren Tagen daran, dass es eine Zeit gegeben hat, in der die vermeintlich Helfenden Leidensgenossen nicht geschützt, sondern ihren Mördern ausgeliefert haben.
Seien Sie versichert, dass wir nicht zuletzt eingedenk dieser Geschichte unseres Faches unserer ärztlichen Verantwortung für Sie nach bestem Wissen und Gewissen nachkommen wollen.